- 47 bis 56 Prozent der Industrieprodukte in Europa gelten als kritisch – insbesondere in den Bereichen Pharma, Energie, Halbleiter und Rohstoffe
- Lieferantenwechsel kostet: Die Ablösung geopolitisch riskanter Lieferanten würde die EU rund 47 Mrd. US-Dollar kosten – ein Plus von 141 Prozent gegenüber dem ursprünglichen Importwert
- Österreich profitiert von EU-Förderungen zentraler Branchen, muss aber auch eigene wirtschaftliche Schwerpunkte definieren
Wien, 27. November 2025. Inmitten geopolitischer Spannungen, gestörter Lieferketten und wachsender technologischer Herausforderungen vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der globalen Wirtschaftspolitik: Regierungen weltweit setzen verstärkt auf eine souveräne Industriepolitik, um strategische Schlüsselindustrien zu schützen und die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dies zeigt die aktuelle EY-Parthenon-Studie „Rebuilding a Sovereign Industrial Policy“, die auf einer Analyse von mehr als 1.200 industriellen Produkten in Europa basiert. Auch Österreich steht vor der Herausforderung, geopolitische Abhängigkeiten zu reduzieren und die heimische Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Globale Lieferketten sind verwundbar
Die COVID-19-Pandemie, Handelskonflikte und technologische Umbrüche haben in den letzten Monaten und Jahren die Verwundbarkeit globaler Lieferketten offengelegt. Gleichzeitig wächst der Druck, die Dekarbonisierung voranzutreiben und technologische Führungspositionen zu behaupten. In diesem Kontext gewinnt die Idee der industriellen Souveränität an Bedeutung – verstanden als gezielte staatliche Förderung kritischer Industrien und Produkte.
Laut der Studie verfolgen Staaten dabei drei zentrale Ziele: Sie wollen geopolitische Abhängigkeiten verringern, indem sie Lieferanten stärker diversifizieren oder Produktionskapazitäten gezielt ins Inland zurückverlagern. Gleichzeitig gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie zu stärken – etwa durch Investitionen in strategisch wichtige Sektoren. Darüber hinaus soll die gesellschaftliche Stabilität gesichert werden, indem die Versorgung mit essenziellen Gütern auch in Krisenzeiten gewährleistet bleibt.
Souveräne Industriepolitik als nationale Notwendigkeit
„Globale Lieferketten sind auf jeden Fall im Wandel und mitunter auch gefährdet. Eine souveräne Industriepolitik ist darum heute kein ideologisches Konzept mehr, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit“, sagt Martin Bodenstorfer, Partner bei EY-Parthenon Österreich. Europa ist, das zeigt die Studie, in zentralen Bereichen wie Halbleitern, Medikamenten und Energie hochgradig abhängig von geopolitisch riskanten Lieferketten.
Als „kritisch“ gelten laut Studie jene Produkte, die für das Funktionieren zentraler Wirtschafts- und Versorgungssysteme unverzichtbar – etwa Halbleiter, pharmazeutische Wirkstoffe oder strategische Rohstoffe – und deren Lieferketten zugleich von hoher Importabhängigkeit und geopolitischen Risiken geprägt sind.
Bodenstorfer ergänzt: „Die COVID-19-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Stärke Chinas im E-Auto- und Solarbereich haben deutlich gemacht: Versorgungssicherheit ist keine Selbstverständlichkeit – sie braucht strategische Industriepolitik.“ Rund 47 bis 56 Prozent aller Schlüsselprodukte in Europa gelten als kritisch – das sind rund 570 bis 700 von 1.230 Industriegütern.
Europa vor der Wahl: (Billig-)Importe mit Risiko oder eigene industrielle Stärke
Der „alte Kontinent“ und damit auch Österreich stehen damit vor einer strategischen Entscheidung: Sollen geopolitische Lieferabhängigkeiten akzeptiert werden – oder investiert man gezielt in industrielle Souveränität? Beispiele wie die Photovoltaikproduktion zeigen: Onshoring ist teuer, schafft aber Arbeitsplätze, stärkt die Versorgungssicherheit und fördert die langfristige Wettbewerbsfähigkeit.
Die französische Solarbranche ist auf Importe angewiesen: Pro Jahr werden Photovoltaikzellen im Wert von rund 70 Mio. US-Dollar eingeführt, knapp die Hälfte davon aus China. Eine Rückverlagerung der Produktion würde zwar Mehrkosten von über 200 Mio. US-Dollar verursachen, könnte aber bis zu 375 Arbeitsplätze schaffen und die CO₂-Emissionen um rund 2.000 Tonnen pro Jahr senken. Würde die EU allerdings auf sämtliche geopolitisch riskante Lieferländer verzichten, würde das bis zu 47 Milliarden US-Dollar jährlich kosten – das bedeutet ein Plus von 141 Prozent gegenüber dem ursprünglichen Importwert. Für Frankreich allein würde ein solcher Schritt 6,2 Mrd. US-Dollar kosten – 101 Prozent mehr als die ursprünglichen Importe.
Neue Industriepolitik als strategische Antwort auf multiple Krisen
Laut der EY-Studie sind auch aufgrund dieser Tatsachen 82 Prozent der befragten CEOs bereit, sich aktiv an Initiativen zur Förderung nationaler Resilienz zu beteiligen – 56 Prozent würden dafür geringere Gewinnmargen akzeptieren. Besonders in Europa zeigt sich ein wachsendes Interesse an der Onshoring-Strategie. Das ist auch notwendig, ist in Europa das Engagement doch noch ausbaufähig: Nur 28 Prozent der CEOs sind bereits an Initiativen zur Stärkung nationaler Resilienz und Autonomie im Sinne industrieller Souveränität beteiligt, 49 Prozent planen immerhin eine Beteiligung. In Nord- und Südamerika (55 %) sowie im asiatisch-pazifischen Raum (52 %) ist die Beteiligung deutlich höher.
Bodenstorfer sagt: „Eine erfolgreiche Industriepolitik braucht klare Prioritäten, verlässliche Förderung und ein innovationsfreundliches Umfeld. Regierungen und Unternehmen müssen gemeinsam handeln, um gezielt in jene Sektoren zu investieren, die für die Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit entscheidend sind.“